Der einbeinige Bartgeier - Geschichten aus der Vogelstation
Ganz spontan ergab sich für mich die Gelegenheit, bei einer Führung in der Eulen- und Greifvogel-Station Haringsee teilzunehmen. Die Station nimmt Wildtiere und vor allem Vögel in Not auf, pflegt sie gesund, soweit möglich und versucht die Wildtiere wieder in die Natur zu entlassen. Das geht aber nicht immer – Tiere können zu schwer verletzt oder durch Fehlprägungen schlicht gefährlich sein. Die Station ist voller tragischer, aber auch Hoffnung bringender Geschichten.
Ich kann mich noch erinnern, als ich als Kind zum ersten Mal von Bartgeiern gehört habe. Ich fand sie sofort sehr aufregend und es betrübte mich, dass ich in dem Moment, in dem ich dieses Atem beraubende Tier kennenlernte, gleichzeitig erfahren musste, dass es ausgerottet wurde - eines von viel zu vielen dieser Erlebnisse. Alle wurden ausgerottet? Nein! In Spanien hatte sich eine winzig kleine Population vor dem tödlichen Zugriff des Menschen retten können und es freute mich sehr, als ich in erwachseneren Jahren immer wieder kleine Neuigkeiten über dieses legendäre Tier und den Versuchen der Nachzucht zu hören. Auch erinnere ich mich, wie ich zum ersten Mal einen echten lebendigen Bartgeier in einem Gehege vor mir sah und wie unfassbar beeindruckend das wahr. Ich hatte sie mir ja schon gewaltig vorgestellt mit ihren drei Meter weiten Schwingen, doch als ich zum ersten Mal einen sah – dieser Blick, die rostrote Brust, die langen dunklen Federn der Flügel, Ehrfurcht gebietend – ich glaube, ich hatte Tränen in den Augen.
Und nun hatte ich schnell zu einer Führung zugesagt an einem Ort, von dem ich nichts wusste. Man kann sich meine Begeisterung vorstellen, als mir klar wurde, dass sich auf ebendieser Station eine Vielzahl von Bartgeier-Pärchen tummeln und ihre Art am Leben zu erhalten versuchen. Was für ein Freudentag! Und da saßen sie in schattigen Gehegen und zeigten sich in all ihrer Pracht! Und ein Schwall an beglückenden Informationen brach auf mich hernieder – es war ein Traum 🥰.
Bartgeier sind reine Aasfresser mit einer Magensäure, so ätzend, das sie im ganzen verschluckte Knochen einfach auflösen kann. Sie gehören eigentlich in die heimischen Berge, wurden aber aus reinem Aberglauben bis zur Ausrottung gejagt. Ein Fakt, der mich glatt umgehauen hat, ist, dass die schöne rostrote Farbe der Brust und Kopffedern nicht angeborener Natur ist. Bartgeier sind die einzigen Vögel, die sich schminken. Die Zuchtstation lässt aus dem Salzburgischen Eisenoxid-haltigen Sand ins Marchfeld bringen, damit sich die Vögel darin wälzen und hübsch herrichten können. Warum sie das machen, weiß man nicht genau, aber es wird vermutet, dass sie so ihren Status unterstreichen wollen, da die größeren und somit dominanteren Weibchen sich am stärksten einfärben, während sich das schwächere Männchen aus Bartgeier-Trios meist am wenigsten bunt zeigt. Ja, Bartgeier leben (zumindest in Spanien) gern in Trios – ein Weibchen und zwei Männchen. Und was jetzt das mit dem Schminken und dem Status betrifft, so wissen wir Menschen ja auch nicht immer bis ins kleinste Detail, warum wir uns manchmal rausputzen, als müssten wir allein das Hauptabendprogramm stemmen. Instinkte sind einfach faszinierend. Und sich derart hübsch machende Vögel sind sensationell cool. Die Farbe steht ihnen ja wirklich auch ganz ausgezeichnet! Geschmack haben sie also auch 😉.
Die Station in Haringsee hat ein sehr spezielles Zuchtprogramm, dass ich unheimlich faszinierend fand. Wenn ein verletzter Vogel zu ihnen gebracht wird, der so stark verletzt ist, dass er nicht mehr in freier Wildbahn überleben kann, bekommt er eine ganz besondere Aufgabe: Er wird zum Ammenvogel. Verletzte Vögel werden verpaart, ihnen werden Eier untergeschoben, sowie verwaiste Küken. Will man Vogelküken nämlich retten, um sie später wieder aussiedeln zu können, muss man sich solcher Tricks bedienen, um nicht Fehlprägungen zu riskieren. Wildtiere müssen auf ihre eigene Art geprägt werden und auf keinen Fall auf Menschen. Sie müssen scheu sein und sollten kein näheres Interesse an Menschen entwickeln. Deshalb sind die Volieren auf der Station auch halb überwachsen und die Pfleger bemühen sich um so wenig Kontakt wie möglich. Denn auch die Ammen-Eltern sollen dem Menschen gegenüber scheu bleiben, damit sie die Angst vorm Menschen an die Nachkommen weitergeben.
Auch das älteste Bartgeier-Pärchen in der Zucht wurde uns vorgestellt. 40 Jahre ist das Weibchen bereits alt und austricksen kann man sie nicht mehr. Sie sitzt brav auf den falschen Eiern herum, doch kennt sie bereits die Kiste, in der die Küken, um die sie sich kümmern soll, gebracht werden. Sie geht schon von alleine zur Seite, wurde uns erzählt, so dass man Küken im Nest platzieren kann, und beginnt sich sofort um den Nachwuchs zu kümmern – und ja sie sieht dabei verdammt gut aus 🥰.
In der Nachbarvoliere treffen wir auf einen Dauergast. Als Küken hat sich leider unbemerkt ein Wollfaden um sein Bein geschlungen – das endete in einem abgestorbenen Fuß. Nicht dass man das so leicht bemerken würde, selbst die Vögel mit nur einem Flügel sind Spezialisten darin, ihr Handikap nicht zu zeigen. Kein Wildtier will die Aufmerksamkeit von hungrigen Raubtieren auf sich lenken. Der einbeinige Bartgeier ist noch jung, er ist schon richtig groß, aber sein Gefieder ist noch nicht ausgefärbt. Trotzdem hat er schon einiges erlebt. Eine eher neuere Methode, Menschen mit Amputationen mit Prothesen zu versorgen, ist eine Operation, bei der eine Schraube (glaube ich) aus Titan (vermute ich mal) direkt in den Knochen eingepasst wird (habe ich gehört). An diesem Stift (?) – ja, ich habe das echt ganz toll recherchiert – wird dann die Prothese angebracht. Die Leute von der Vogelstation in Haringsee sind offensichtlich sehr engagiert, denn sie haben einem Arzt, der solche Operationen in Wien macht, kontaktiert. Und dieser Arzt ist offensichtlich auch sehr engagiert, denn er hat dem Vogel tatsächlich einen solchen Stift verpasst. Ja, dieser junge Bartgeier wurde im AKH in Wien operiert, damit er eine Vogelfußprothese tragen kann. Und sobald er alt genug ist, wird er mit einem bestimmt wunderschönen Bartgeier-Weibchen verpaart, damit die beiden selbst Ammeneltern werden können, um ihren Beitrag zu leisten, damit wieder riesige Vögel über die Alpen gleiten können, auf der Suche nach übrig gelassenen Knochen, die sie dann mit ihrer Super-Magensäure zerlegen können. Drei Meter Flügelspannweite! Über die Bergrücken streifend,... durch den von den Bergwiesen aufsteigenden Nebel,... im goldenen Licht des Morgens,... und du hörst ihre Rufe und du blickst hinauf,... und für einen Moment ist es, als könntest du selber fliegen, ... frei,... vom Wind getragen...