Der geraubte Steinadler
Letztes Mal habe ich von den Bartgeiern, denen ich in der Eulen- und Greifvogelstation Haringsee begegnet bin, erzählt. Dieses Mal möchte ich von einem anderen Vogel berichten, der in Größe und Anmut dem Bartgeier in nichts nachsteht, von dessen Gefährlichkeit ich aber immer wieder gehört habe. Und auch in Haringsee, bin ich solchen Geschichten begegnet und habe endlich auch einen fachlichen Hintergrund dazu bekommen. In einer Voliere ganz am Rande sitzt nämlich ein großer dunkel gefärbter Vogel – ein Weibchen, also besonders groß. An der Tür steht ein Warnschild: Vorsicht fehlgeprägter Vogel, nicht betreten. Und wie ich so vor dem Gitter stand und sie uns mit über die Schulter gedrehten Kopf beobachtete, kam ich nicht umhin zu denken, dass ich mich tatsächlich nicht mit ihr anlegen wollen würde. Ein Steinadler. Ein gewaltiger Vogel, ausgestattet mit riesigen scharfen Krallen, beeindruckendem Schnabel und einem Blick, der einem durch und durch geht – und so Ehrfurcht gebietend schön. Um die 40 Jahre alt ist sie bereits und sitzt im Gefängnis aus einer schrecklichen Ungerechtigkeit heraus. Ein Falkner hat sie einst aus dem Nest ihrer Eltern gestohlen und zu sich nach Hause gebracht. Er hat sie selbst aufgezogen, was für viele Wildtiere bereits ihr Schicksal besiegelt. Die wunderschöne Adlerdame wurde fehlgeprägt. Nicht anderen Adlern gilt ihr Interesse, nein, Menschen sind für sie die Artgenossen. Und das hat Konsequenzen. Der törichte Falkner hat sie zum Jagen ausgebildet, was mit jungen Steinadlern durchaus gelingt, wie mir erzählt wurde. Doch Steinadler haben ein ausgeprägtes Territorial-Verhalten. Sie dulden Artgenossen nicht in ihrem Gebiet. So haben sie zum Beispiel einen speziellen Flug, mit dem sie herankommenden Steinadlern signalisieren können, dass es Ärger gibt, wenn sie nicht abdrehen. Auf Menschen hat so ein Verhalten natürlich nicht den erwünschten Effekt. Ein Spaziergänger wird sich wohl kaum angesprochen fühlen von den erstaunlichen Flugmanövern, sie vermutlich eher bestaunen, als sie als Drohung zu verstehen. Ein fehlgeprägter Vogel fühlt sich aber sehr wohl durch Menschen gestört und möchte, dass diese sich an seine Regeln halten. Ein dem Signalen des Adlers nicht folgender Mensch, befindet sich also plötzlich in Gefahr, ohne es überhaupt zu merken. Der Freiflug wird also mit der Zeit gefährlich und der Adler muss in seiner Voliere bleiben. Durch die Fehlprägung sieht der Vogel nun auch noch seine menschliche Bezugsperson als seinen Lebenspartner an. Nur diese Person kann also in die Voliere und wird freundlich empfangen – solange alles gut läuft. Andere Menschen können mit der vollen Aggression des Vogels konfrontiert werden und bei einem derart guten Jäger wie einem Steinadler kann das tödlich enden. Steinadler attackieren den Kopf, wurde mir erklärt. Und obwohl ihre Krallen nicht durch die Schädeldecke kommen, gibt es an so einem Kopf genug Löcher in die sich so ein Adlerfuß reinbohren kann. Uns wird auch eine Geschichte erzählt, bei der ein Falkner selbst von einem Steinadler – aus vermutlich nachvollziehbaren Gründen, wie ich hier spekulieren möchte - attackiert wurde. Der Vogel hatte ihn gepackt, eine Kralle im Ohr, eine im Aug, eine im Mund - das geht sich aus bei einer so großen Klaue. Der Nachbar hörte die Schreie und erschlug den Vogel, der nicht loslassen wollte. Leg dich nicht mit einem Steinadler an, sollte die Lehre davon sein. Und halte Wildtiere nicht als Haustiere. Und ziehe keine Wildtiere mit der Hand auf. Es gibt eine Menge zu lernen in so einer Führung.
Was ist nun mit der wunderschönen Adlerdame in der Voliere. Nun, der Falkner ist verstorben. Seine Frau versuchte tapfer, sich um den Vogel zu kümmern, doch der Vogel verachtet sie als die störende Nebenbuhlerin, die sie vermutlich in den eindringlich schauenden Adleraugen immer war. So kam der Vogel in die Rettungsstation. Wie anders hätte ihr Leben sein können, wenn sie nicht als Kind geraubt worden wäre, von einem Mann, der vielleicht dachte, dass ihre Kraft und Stärke magischerweise auf ihn abfärben würde, wäre sie sein Geschöpf. Sie hätte ihre Kreise über die Alpen ziehen können, ihre Schreie wären im Widerhall der schroffen Steinwänden erklungen. Freigelassen werden kann sie nicht mehr, sie stellt eine Gefahr für Menschen dar. Ich hätte fragen sollen, ob es für solche Vögel eine Chance gibt, dass sie sich vielleicht doch für die eigene Art anfangen zu interessieren und verpaart werden können. Vielleicht wollte ich die Antwort nicht hören. Ein anderer Steinadler in der Station wurde beschlagnahmt und hierher gebracht, weil er darauf abgerichtet wurde, Hunde zu töten. Auch er muss sein Leben hinter Gittern verbringen. Es gibt viele traurige Geschichten hier und viele beginnen mit unwissenden, sich selbst überschätzenden Menschen. Der Gedanke, dass zumindest der Großteil der Vögel dort Ammenvögel werden können und eine Familie bekommen, ist ein Trost. Jetzt möchte ich in die Berge fahren und Steinadler fliegen sehen. Ihre Freiheit muss für die ganze Art reichen.