Die Faszination des fast Perfekten
Das Wort perfekt löst in mir viele verschiedene Assoziationen aus, weshalb ich es für geeignet halte, als Thema für Schreibübungen und -ideen zu dienen. Es ist angenehm, an etwas Perfektes zu denken – das perfekte Buch, die perfekte Serie, der perfekte Tag – in dieser Assoziation ist das Perfekte ein angenehmer Genuss, an dem es nichts zu ändern gibt, ein Erlebnis, eine Erinnerung, etwas, das konsumiert wurde und zur Befriedigung führte.
Erst seit ich angefangen habe, mich mit der Grammatik der tschechischen Sprache auseinanderzusetzen, wurde die Bedeutung des Wortes überdeutlich. Dort muss ich nämlich, um zu lernen, die richtigen Verben zu benutzen, den Aspekt der Verben verstehen. Und dieser Aspekt wird durch die Worte imperfekt und perfekt ausgedrückt. Da es sich um Grammatik handelt, hat mich das Wort perfekt an dieser Stelle zunächst irritiert, denn mit der Vergangenheit hat es nicht direkt zu tun. Ich musste mich also an den Ursprung des Wortes und seiner lateinischen Bedeutung besinnen. Perfekt bedeutet vollendet. Und nicht nur im schöngeistigen Sinn. Etwas, das perfekt ist, ist vollendet in dem Sinn, dass es fertig ist, da wird nichts mehr daran geändert. Und wenn etwas so gut ist, dass keine Veränderung es mehr verbessern kann, dann nennen wir es perfekt. Es ist vollendet.
Und genau dieser Aspekt ist es, der mich zu Überlegungen im Bereich der Inspiration führt. Folgende Frage ist es, über die ich gerne nachdenke: „Was inspiriert mich?“ Es gibt natürlich viele verschiedene Sachen, die mich inspirieren, aber mir ist öfter etwas Spezielles aufgefallen. Manche Geschichten inspirieren mich zu eigenen Geschichten, andere nicht – aber es sind nicht die Geschichten, die ich als perfekt erachte, die mich am meisten zu künstlerischen Taten anregen – es ist das fast Perfekte, das mich am stärksten inspiriert.
Ich möchte kurz von meinem ganz persönlichen Empfinden von Symmetrie berichten. Ich bemerke durchaus, wie ein großer Anteil der Menschen um mich herum, Symmetrie als etwas Schönes, Angenehmes empfindet. Symmetrische Muster, symmetrische Gärten, symmetrische Häuser und so fort. Für viele Betrachter liegt Schönheit in Symmetrie. Bei mir ist das nicht so. Perfekte Symmetrie ist für mich genau das, was das Wort bedeutet – es ist abgeschlossen. Sobald etwas perfekte Symmetrie erreicht, oder in absolute Balance gerät, ist es für meinen Kopf nicht mehr interessant. Symmetrische Muster erzeugen in meinem Bewusstsein eine Art Langeweile, die zu sofortigem Desinteresse führt. Bilder von Schlössern mit exakt synchronen Seiten lösen in mir kaum Erregung aus, während ich mich an typischerweise asymmetrischen Burgen kaum satt sehen kann. Da sehe ich Geschichten, da sehe ich Geheimnisse, da möchte ich auf Entdeckungsreise gehen. Symmetrische Gebäude lösen nicht ansatzweise eine vergleichbare Erregung aus. In der Symmetrie finde ich keine Bewegung. So gesehen, ist es also nicht weiter verwunderlich, dass ich zur Japanophilie neige, wie im weiteren Verlauf dieses Textes mal wieder klar zu sehen sein wird.
Mit Geschichten ist das natürlich ganz anders. Ob eine Geschichte perfekt ist, ist vollkommen subjektiv – das hat nichts mit Symmetrie zu tun. Aber es gibt Geschichten, die ich dermaßen liebe, dass ich nichts daran anders haben möchte. Das bedeutet nicht, dass sie mich nicht trotzdem zu weiteren Geschichten ermuntern können, aber es gibt stärkere Kräfte, die mich viel mehr ins Geschichten Erfinden ziehen.
Ich versuche, ein Beispiel zu nennen. Chihiros Reise ins Zauberland ist zum Beispiel ein Film, dessen Geschichte für mich perfekt ist. Ich genieße die Geschichte in allen Zügen immer und immer wieder. Die Magie der Geschichte verlockt mich, die Erzählweise, die Gefühle, die die Erzählung auslöst – ich bin sicher, dass all dies meine Geschichten beeinflusst, bestimmt beeinflusst es mein Schreiben. Und ich träume davon, eine Geschichte zu schreiben, die sich ähnlich anfühlt. Aber die Story selbst gefällt mir so gut in allen Einzelheiten, dass sie nicht direkt eine neue Geschichte auslöst. Anders ist es mir mit einem anderen Ghibli-Film ergangen. Ich habe Das wandelnde Schloss gesehen und es hat eine angenehme Unruhe in mir ausgelöst, die einen ganzen Roman ins Leben gerufen hat. Der Film hat mich eindeutig fasziniert, die Geschichte gefesselt, aber es war nicht in dem Sinne perfekt für mich, dass ich mich in Ruhe befunden hätte. Es gab Kleinigkeiten, die mich beschäftigten. Irgendetwas störte mich, beziehungsweise ich hatte Fragen über Beziehungen und Gefühle, die ich unbeantwortet sah. Ich wollte gerne mehr wissen. Und als sich mein Kopf mit diesen Fragen beschäftigte, da entstand plötzlich eine ganz eigene Geschichte. Die Elemente aus dem Film sind in meiner Story nur mehr marginal erkennbar. Es ist etwas komplett anderes daraus geworden, was wunderbar ist. Es gibt einen Zauberer und ein Mädchen, dem es an Selbstbewusstsein fehlt. Und es herrscht Krieg. Das ist aber auch schon alles, was auf die Inspirationsquelle des Romans hindeutet.
Ich denke, der Drang, mehr über eine Geschichte wissen zu wollen, ist ein starker Antrieb für viele Schreiberlinge. Der große Sektor der Fan-Fiction legt davon Zeugnis ab. Es ist schön, die Lieblingsgeschichten im Kopf oder auf dem Papier weiterzuspinnen, aber ich sehe, wie das bei mir besser funktioniert, wenn die Geschichte noch unabgeschlossen und somit unvollendet erscheint. Auch so kann man das fast Perfekte betrachten.
Und auch dieser Blogpost ist weit davon entfernt, vollendet zu sein, deshalb sind hier Fragen zum Weiterphilosophieren 😉:
Welche Geschichten findest Du perfekt?
Kennst du eine Geschichte, die für Dich fast perfekt ist? Was möchtest Du an ihr an ändern? Was möchtest Du an ihr mehr erkunden?
Welche noch unbeleuchteten Aspekte berühmter Geschichten, würdest Du gerne weiter ergründet sehen?